Warum Härte und Abschreckung gegen Bedrohungslagen nur bedingt helfen
/ Der mutmaßlich islamistische Anschlag von Solingen mit drei Toten und vielen Verletzten hat uns wieder vor Augen geführt, wie verwundbar Demokratien sind. Es ist klar: Liegen Informationen vor, dass von Individuen eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht, dann muss der Rechtsstaat alle Mittel ausschöpfen, um dieser Bedrohung zu begegnen.
Aber hier trennen sich die Wege vorliegenden Beitrags und einem sich ausbreitenden öffentlichen Diskurs, der die klar verurteilungswürdigen Vorkommnisse politisch zu instrumentalisieren versucht – und dabei verschiedenste „Kollateralschäden“ – die Hierarchisierung von Opfern, gesellschaftliche Spaltung und eine Bedrohung der Bewältigung globaler Herausforderungen – billigend in Kauf nimmt.
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1. Hierarchisierung von Opfern
Wer nun die ohnehin schon ausgehöhlte EU-Asyl- und Migrationspolitik weiter verschärfen will, nimmt bewusst oder unbewusst eine Hierarchisierung von potentiellen Opfern in Kauf. Wenn etwa Menschen aus bestimmten Ländern Asyl künftig verweigert wird oder Menschen in Länder abgeschoben werden, wo ihnen Gefahr für Leib und Leben droht, dann machen sich diejenigen, die eine solche Politik ermöglichen, an Menschenrechtsverletzungen mitschuldig. Konkret: Wenn Menschen etwa aus geschlechtsspezifischen, religiösen, politischen oder Gründen der sexuellen Orientierung Asyl beantragen und mit dem Verweis, dass aus „ihrem Land“ ein Attentäter stammt, künftig kein Asyl mehr gewährt wird, wäre das eine massive Verletzung der Genfer Flüchtlingskonvention. Verfolgte, gefolterte oder gar getötete Menschen wären die Folge. Durch solche Maßnahmen werden Gewalttaten nicht ungeschehen gemacht, sondern ein populistischer Versuch unternommen, sich als „Herr*in der Lage“ zu präsentieren. Damit kann zwar das Sicherheitsgefühl in Teilen der Bevölkerung gesteigert werden. Ob sich dadurch allein die Sicherheitslage selbst verbessert, ist allerdings mehr als fragwürdig.
2. Gesellschaftliche Spaltung
Eine Politik, die auf so primitive Art und Weise in ein „Wir“ und „Die“ spalten will, leistet einer weiteren ethnisch motivierten Renationalisierung Deutschlands Vorschub. Davon profitieren in erster Linie rechte Politiker*innen, die ohnehin schon auf dem Vormarsch sind. Andere, die in Hoffnung auf Wähler*innenstimmen auf diesen Zug aufspringen, arbeiten letztlich den Rechten zu. Eine solche Politik birgt ein großes innergesellschaftliches Spaltungspotential in sich. Die damit verbundenen sozialen und ökonomischen Kosten können wir uns nicht leisten. Wenn durch klar zu verurteilende Gewalttaten von Individuen rassistische Denklogiken gestärkt werden, schadet das der Migrationsgesellschaft, die wir seit Langem sind. Fast jede*r würde zustimmen, dass bestimmten Menschengruppen allein aufgrund ihrer – zum Teil unterstellten – Herkunft nicht angesehen werden kann, ob sie tendenziell gewalttätiger sind als andere. Aber genau das passiert zunehmend. Die Macht der „Farbgefängnisse“, in denen wir alle mehr oder weniger gefangen sind, wird durch eine unbesonnene Politik reaktiviert. Und sie macht vor keiner Gruppe, die phänotypisch von der weiß* gelesenen Dominanzgesellschaft abweicht, Halt. Viele nicht Betroffene widersprechen in diesem Punkt zwar und heben die Toleranz und Offenheit in Deutschland hervor. Fast jede negativ von Rassismus betroffene Person kann hierüber aber ein anderes Lied singen. Auf diese Weise werden Jahrzehnte der Arbeit für eine diverse und inklusive Gesellschaft gefährdet. Und das ist nicht „nur“ schlimm für die dadurch zunehmend Stigmatisierten, die zum Teil seit vielen Generationen zum Erfolg Deutschlands beitragen. Ein Land, das neben den Fähigkeiten und Talenten seiner Bevölkerung kaum andere Ressourcen auf eigenem Boden besitzt, kann es sich nicht leisten, durch selektierende Narrative immer größeren Teilen der de-facto-Bevölkerung vor den Kopf zu stoßen, indem sie quasi in „Sippenhaft“ genommen werden, weil einige Individuen, die ihnen rein äußerlich ähneln, Straftaten begangen haben. Kaum eine*r in unseren Breitengraden würde umgekehrt auf die Idee kommen zu sagen, dass alle weißen Menschen gewaltbereite Nazis sind, „nur“ weil in den Medien gerade über eine rassistische Gewalttat berichtet wurde. Da dies so ist, hat auch mit oben erwähnten „Farbgefängnissen“ zu tun. Und in ihnen wird regelmäßig mit zweierlei Maß gemessen.
3. Bewältigung globaler Herausforderungen bedroht
Das Othering, also das hierarchisierende Andersmachen von Menschengruppen jenseits der konstruierten „Wir“-Gruppe, behindert nicht nur das inner-, sondern auch zwischengesellschaftliche Miteinander. Letzteres ist aber eine zentrale Voraussetzung für die Bewältigung globaler Herausforderungen, die nicht im „Renationalisierungs-Modus“ bewältigt werden können. Globale Herausforderungen wie der menschengemachte Klimawandel, die sich mehrenden kriegerischen Auseinandersetzungen oder Pandemien können wir nur gemeinsam bewältigen. Einigelungstendenzen, wie sie weltweit – auch in vielen demokratisch verfassten Staaten – zu beobachten sind, gleichen einer „Vogel-Strauß-Methode“, die nur solange gut geht, bis die genannten Herausforderungen auch die eigene Gesellschaft unmittelbar betreffen (Sie betreffen uns jetzt schon, aber scheinbar für viele noch nicht akut genug). Gruppen von Politiker*innen, die Abschottung – richtiger: die künstliche Abkoppelung von den globalen Problemen, für die der Globale Norden* oftmals mitverantwortlich ist – als Lösung der wachsenden Probleme verkaufen wollen, können dies nur auf Zeit tun. Keine historisch bedinge Anhäufung von Geld, Technologie und Material kann langfristig dafür sorgen, dass oben erwähnte Herausforderungen an uns vorbeigehen. Wer das glaubt oder Wähler*innen glauben machen will, verspielt wertvolle Zeit, in der echte Anstrengungen im Kampf gegen Umweltdegradierung, die Ausbreitung von Krieg und Gewalt sowie von Krankheiten unternommen werden könnten. Durch diese relative Inaktivität werden aber nicht zuletzt auch Strukturen stabilisiert, in denen sich Perspektivlosigkeit ausweiten kann. Letztere wird von extremistischen Gruppen jeglicher Couleur weltweit regelmäßig ausgenutzt. Somit ist eine unbesonnene Politik wie oben beschrieben letztlich genau das Gegenteil dessen, was es tatsächlich braucht. Wir brauchen einen weltweiten Dialog zwischen Regierungen, Zivilgesellschaften und allen anderen gesellschaftlichen Kräften, um einen Prozess in Gang zu setzen, an dem alle gleichberechtigt Lösungsvorschläge zur Bewältigung der globalen Herausforderungen einbringen können. Am Ende stünde ein gemeinsamer Plan. Das alles lässt sich aber nicht weiterdenken, wenn renationalisierenden Tönen, in denen zunehmend Bilder von „Wir“ und „Die“ reaktiviert werden, nicht Einhalt geboten wird.
Was es braucht
Den gesellschaftlichen Kräften einschließlich Politiker*innen, die angesichts der Komplexität der angerissenen Herausforderungen dennoch nicht den Weg der – vermeintlich – einfachen Lösungen gehen, sei an dieser Stelle gedankt. Sie setzen sich nicht für eine immer weitere Aushöhlung der Asyl- und Migrationspolitik, sondern für eine Welt der Perspektivenannäherung ein, in der sich der Migrationsdruck ganz von alleine erledigen wird. Sie setzen nicht auf Spaltung, sondern auf die Förderung aller Köpfe in unserer Gesellschaft, weil sie erkannt haben, dass das neben reinem moralischen Anstand auch im Interesse der Zukunft der gesamten Gesellschaft ist. Und sie reden nicht nur von einem dringend benötigten und verstetigten globalen Dialog, sondern setzen ihn auch in die Tat um. Das braucht es.
(Serge Palasie, September 2024,)
*weiß wird klein und kursiv geschrieben (und Schwarz in dem Kontext groß), um den konstruierten Charakter dieser „Hautfarben“-Kategorien zu verdeutlichen.
*Globaler Norden und Süden sind Behelfsbegriffe, die „Entwicklungs“- und Industriestaaten ersetzen. Auch für diese Begriffe gilt, dass sie die kolonialhistorischen Zusammenhänge der Entstehung beider Länderkategorien unberücksichtigt lassen.